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Vor Nato-Gipfel: Militärexperte Thiele im Interview – „Verachtung für Europa“

Unmittelbar vor dem Nato-Gipfel setzt Trump die Partner unter Druck. Militärexperte Thiele erwartet einen „Schmusekurs“, um den Republikaner zu umgarnen.

© IMAGO/ZUMA Press Wire; Ralph Thiele

Warum Israel und der Iran Krieg führen

Während in der Ukraine und im Nahen Osten zwei Kriege toben, treffen sich in der kommenden Woche Vertreter der Nato, um über die Zukunft des transatlantischen Verteidigungsbündnisses zu beraten. Das Gipfeltreffen in Den Haag (24. bis 25. Juni) steht nicht nur angesichts der Konfliktherde unter besonderer Beobachtung, sondern auch wegen der beständigen Drohgebärden von Donald Trump.

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Immer wieder pokert der US-Präsident mit einem Austritt der USA, was für die Nato zu den jetzigen Gegebenheiten der letzte Sargnagel wäre. Ralph Thiele, Militärexperte und Oberst a.D., erwartet daher einen „Schmuse-Gipfel“, um den Republikaner zu umgarnen.

Nato-Austritt der USA wäre „höchst unvernünftig, aber denkbar“

Herr Thiele, wie blicken Sie auf den anstehenden Nato-Gipfel?
Wir erwarten einen „Schmuse-Gipfel“ für Trump. Alle Vorbereitungen zielen darauf ab, Donald Trump zufriedenzustellen.


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Die zweite Amtszeit von Donald Trump ist ein Risiko für das Bündnis – immer wieder spekuliert er mit einem Austritt der USA. Wie realistisch ist ein solches Szenario?
Ein solches Szenario ist auch für die USA höchst unvernünftig, aber denkbar. Das Trump-Team empfindet eine tiefe Verachtung für Europa, ist konzeptionell dramatisch schlechter aufgestellt als die Vorgänger-Regierungen und bedient hemmungsfrei die erratischen Eingebungen des US-Präsidenten. Bis vor acht Wochen war das eine ernsthafte Überlegung. Im Augenblick spielt sie keine Rolle.

Rutte möchte „Ruhe an der Front“

Erstmals wurde von allen Mitgliedern das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt. Trump fordert nun Ausgaben in Höhe von fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Deutschland möchte diesen Kurs tragen, unter anderem Spanien rebelliert dagegen. Ist eine derartige Erhöhung wirklich notwendig?
Bislang ist das Zwei-Prozent-Ziel nicht erfüllt. Es gibt lediglich ein Versprechen, dies im Laufe des Jahres zu erreichen. Leere Versprechungen sind im Bündnis eher die Regel als die Ausnahme. Von daher geht es dem Nato-Generalsekretär, wenn er das Zwei-Prozent-Ziel als „erfüllt“ verkündet, in erster Linie um „Ruhe an der Front“. Bloß keine Munition für Donald Trump, über die er sich empören kann.

Die Zwei-Prozent-Zielsetzung sollte damals eine Zeit sicherheitspolitischer Fahrlässigkeit beenden. Der Kursschwenk auf drei Prozent hätte eine Zeit vernünftiger sicherheitspolitischer Vorsorge einleiten können. Mit 3,5 Prozent Verteidigung plus 1,5 Prozent Infrastruktur gibt die Nato Vollgas. Man wird sehen, wer da tatsächlich mithalten kann. Auch die USA dürften hier Schwierigkeiten haben.

Fünf Prozent könnten die Bundeswehr tatsächlich – wie vom Kanzler gefordert – an die europäische Spitze befördern. Allerdings wird dies nicht gelingen, wenn man nur Lücken füllt und von allem mehr kauft. Wir sollten eine Bundeswehr entwickeln, die nicht nur an „Altware“ vorbei an die Spitze des Fortschritts springt, sondern auch dort bleibt. Das bedeutet zukunftsfähige Einsatzkonzepte, Ausrüstung, Munition, Ausbildung und eine industrielle Basis, die Qualitäten und Quantitäten zeitnah liefern kann. Eine solche Bundeswehr ist dann auch attraktiv für Spitzenpersonal.

Oberst a.D. Ralph Thiele ist Präsident der unabhängigen Initiative EuroDefense Deutschland e.V, Vorsitzender der
Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V. und Geschäftsführer von StratByrd Consulting. Credit: Ralph Thiele

Thiele: Europäische Staaten blicken erwartungsvoll nach Deutschland

Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis die Staaten das Investitionsziel erreicht haben. Kann sich die Nato diese Fahrlässigkeit in den aktuellen Zeiten leisten?
Nein – diese konnte sie sich allerdings zuvor auch nicht leisten und hat es dennoch getan. Angesichts blanker Kassen in vielen – auch großen – europäischen Staaten ist die Frage, wie viel mehr Verteidigung sich die europäischen Staaten überhaupt leisten können. Viele begehrliche Blicke richten sich auf Deutschland.

Trump nutzt das „Fünf-Prozent-Ziel“ als Druckmittel – wieso lässt sich insbesondere Europa derart vorführen? 
Wir haben erlebt, dass die USA die Ukraine hängen lassen – nachrichtendienstlich, bei der Zielaufklärung und -planung, bei Hightech-Waffensystemen und Munition, et cetera. Dies hat Schockwellen bei Verbündeten der USA in aller Welt ausgelöst. Europa weiß seitdem, dass es deutlich mehr machen muss, um die eigene Souveränität und Verteidigung zu sichern.

Die europäischen Staaten schauen in dieser Lage insbesondere nach Deutschland und erwarten Vorbild und Führung. Auf dieser Grundlage wollen sie investieren und hoffen zugleich, damit auch in Zukunft die USA ein Stück weit an Europa zu binden. Hauptmotivation für die fünf Prozent sind damit also nicht der amerikanische Druck, sondern vielmehr die Sorge, künftig weitaus mehr für die eigene Sicherheit tun zu müssen. Wie weit wir dabei dem Fünf-Prozent-Ziel wirklich nahe kommen, wird sich zeigen. 

Welche Hebel müssen als Erstes in Bewegung gesetzt werden, um sich unabhängiger vom Sicherheitsschirm der Vereinigten Staaten zu machen? 
Unsere wichtigste Abhängigkeit von den USA liegt bei der Lageübersicht, der Zielaufklärung und Zielplanung. Es folgen Abstandswaffen und Luftverteidigung, Drohnen, elektronische Kampfführung, Satelliten im erdnahen Weltraum und Künstliche Intelligenz. Hier erwarte ich zielführende Konzepte, Aufträge an die Industrie und Ausbildung der Truppe. Wir müssen insbesondere der europäischen Industrie Aufträge geben, sonst kann sie nicht wachsen. Wenn sie nicht wächst, bleibt Europa abhängig und ungeschützt.