Vor einigen Wochen berichtete BERLIN LIVE über einen Fund in einem Lidl-Markt in der Hauptstadt. Ein X-User hatte ein Foto einer Walnuss-Packung mit Diebstahlschutz gepostet. Der Discounter erklärte damals, es sei den Filialen selbst überlassen, welche Artikel gesichert werden. Das Sichern an sich sei gängige Praxis im Einzelhandel. Wir berichteten.
Doch warum müssen Produkte für rund drei Euro überhaupt gesichert werden? Der Finder brachte selbst eine Notlage durch Armut ins Spiel. Doch welche Rolle spielt Armut in einem reichen Land wie Deutschland? BERLIN LIVE hat mit Armutsforscherin Susanne Gerull gesprochen.
Berliner Professorin: „Große soziale Ungleichheit“
„Wir haben eine große soziale Ungleichheit in Deutschland“, sagt Gerull, die seit 2008 Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin ist. Seit Jahren steige die Einkommensarmut, sagt sie. Also „der Anteil der Menschen, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommen haben“. Das sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes aktuell 15,5 Prozent der Menschen im Land. Auch der Gini-Koeffizient, der die Verteilung von Vermögen misst, zeigt für Deutschland für das Jahr 2021 einen Prozentsatz von 78,8. Damit ist Deutschland eine der ungleichsten Demokratien der Welt.
Das Bürgergeld sei keine ausreichende Hilfe, sagt die Expertin. „Das Bürgergeld ist auch eine Armutslage, keine bekämpfte Armut“, sagt sie. Vor diesem Hintergrund seien die Debatten um härtere Sanktionen und eine Kürzung des Regelsatzes „unsäglich“. Gerull verweist im Gespräch mit BERLIN LIVE auf eine kürzliche erschienene Untersuchung des Vereins „Sanktionsfrei“, für die über ein Umfrageinstitut mehr als 1.000 Bürgergeldempfänger befragt wurden.
Darin geben 72 Prozent der Befragten an, dass der Regelsatz von monatlich 563 Euro nicht ausreiche, um „ein würdevolles Leben zu führen“. 69 Prozent erklären, dass man sich mit dem Regelsatz nicht gesund ernähren könne, 27 Prozent verzichteten demnach sogar auf Essen, damit die eigenen Kinder genug zu essen hätten. Insgesamt 77 Prozent empfinden die finanzielle Lage im Bürgergeld zudem als „eher belastend“ oder „stark belastend“.
Kosten in den letzten Jahren gestiegen
Das liege laut Gerull auch daran, dass durch die Inflation in den letzten Jahren die Kosten für „Grundbedürfnisse wie Essen oder Miete“ extrem gestiegen seien. Besonders in Berlin sind steigende Mieten ein großes Thema. Doch nicht immer werde die Miete vollständig übernommen, so Gerull. Zudem müssten die Stromkosten aus dem Regelsatz beglichen werden. Dennoch werde aktuell viel über Kürzungen und Sanktionen gesprochen, über sogenannte Totalverweigerer diskutiert. Das sind laut Untersuchungen aber nur 0,4 Prozent aller Menschen im Bürgergeld – rund 16.000 Menschen.

Stattdessen, findet die Armutsforscherin, sollte mehr über das Thema Ungleichheit gesprochen werden, darüber ob es wirklich gerecht sei, wenn „der Vorstandsvorsitzende eines Dax-Unternehmens 450 Mal so viel verdient wie seine Reinigungskraft“. Das ganze sei eigentlich eine „Umverteilungsfrage“. Deutschland sei bereits ein reiches Land. Wenn einfach alle doppelt so viel Geld verdienen würden wie bisher, würde es noch immer Menschen geben, die weniger als 60 Prozent des Durchschnitts verdienen – und daher per Definition als armutsgefährdet gelten.
Menschen wollen sich abgrenzen
Dass trotz dieser Ungleichheit erst vor wenigen Monaten eine Bundesregierung gewählt wurde, die beim Thema Bürgergeld auf mehr Sanktionen setzen will, erklärt Gerull mit Abgrenzungsmechanismen. Zu beobachten ist das nicht nur in der Wahlentscheidung, sondern auch im Netz oder in Gesprächen, wo Bürgergeldempfänger oftmals stigmatisiert werden.
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Es sei eine Bewältigungsstrategie von Menschen mit geringen Einkommen, sich von Arbeitslosen abzugrenzen, die gar nicht arbeiten. Und wiederum von Arbeitslosen gegenüber denen, die vielleicht nicht arbeiten können oder gar wollen. „In dem Augenblick, wo ich selbst ausgegrenzt bin, versuche ich mich abzugrenzen und werte den Nächstschwächeren ab“, erklärt die Expertin.
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Um die Armut in Deutschland zu überwinden, müsse stärker über Ungleichheit geredet werden, erklärt die Expertin. Die Politik könne an den Stellschrauben drehen, aber die Politik sei „nicht jemand da oben“. Vielmehr würden politische Entscheidungsträger von Menschen gewählt. Der Kampf gegen die Armut hänge von der gesamtgesellschaftlichen Debatte ab, sagt Gerull. „Von Politik, Medien, von Wohlfahrtsverbänden, Wirtschaftsverbänden, Immobilienfirmen, von uns allen.“