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True Crime Berlin: Wie die Nazis Verbrechen vertuschten – und damit noch mehr schufen

True Crime Berlin in der NS-Zeit. Man will ein Land ohne Verbrechen und bewirkt das Gegenteil. Absolutes Chaos und Unvorstellbares sind plötzlich Alltag.

© BL Collage/Polizeihistorische Sammlung, Berlin

True Crime Berlin: Der S-Bahn-Mörder – größter Kriminalfall der NS-Zeit

Schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs ist Berlin eine Stadt, in der Verbrechen zum Alltag gehören. Die Nazis wollen seit ihrer Machtübernahme im Jahr 1933 eine „Volksgemeinschaft ohne Verbrecher“, allen voran wird den sogenannten „Berufsverbrechern“ der Kampf angesagt. So schreibt es die Berliner Autorin Regina Stürickow in ihrem Buch „Morde im braunen Berlin – eine Kriminalitätsgeschichte 1933 – 1945“.

Am Ende ihrer Herrschaft wird klar sein: Die Nazis haben dieses Ziel nicht nur um ein Weites verfehlt, sondern ganz im Gegenteil, Berlin so viele Verbrechen beschert wie nie zuvor. Und das, ohne die Verbrechen, die die Nazis selbst über Deutschland und Europa brachten, mitzuzählen.

True Crime Berlin: Verbrechen verschwinden nach und nach aus der Presse

Vor 1933 wird in der Presse über die spektakulärsten Verbrechen berichtet, die ermittelnden Kommissare gefeiert wie Stars. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels aber will das Bild eines „sauberen“ Landes, also ohne Verbrechen – nach außen tragen. Solche Berichte machen ihm seine Arbeit zunichte und so wird eine Zensur eingeführt: Alle Pressemitteilungen des Polizeipräsidiums müssen vor der Publikation dem Propagandaministerium vorgelegt werden. Das entscheidet, was veröffentlich wird.


+++Berliner Arzt schweigt im Mord-Prozess: Wollte er „Herr über Leben und Tod“ sein?+++


Weil man sich bewusst ist, dass das Vertuschen und Verschweigen von Verbrechen auf Dauer nicht möglich ist, lässt man die Presse immer mal wieder berichten. Besonders wenn es darum geht, die Bevölkerung um Hilfe zu bitten. Im Fall des späteren S-Bahn Mörders, dem größten Kriminalfall Berlins im sogenannten „Dritten Reich“ darf lange nicht berichtet werden – mit katastrophalen Folgen.

Paul Ogorzow ist Hilfsweichensteller bei der Reichsbahn, Vater, Ehemann und NSDAP-Mitglied – und der Berliner S-Bahn Mörder. Foto: Polizeihistorische Sammlung Berlin

Im Jahr 1937 – nachdem Olympia ein Jahr zuvor die Blicke aller Welt auf Nazi-Berlin gelenkt hatte – erfolgt die erste Verhaftungswelle 2.000 sogenannter „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“. Sie sind die ersten, die in Konzentrationslager verschleppt werden. Ein Jahr später folgt die zweite Verhaftungswelle, dieses Mal sind es 200 „Landstreicher, Bettler, Zigeuner, Zuhälter und wegen Bagatelldelikten Vorbestrafte“, die in Vorbeugehaft genommen werden, schreibt die Berliner Historikerin und Autorin weiter. 1937 soll es nach Angaben der Nazis 313 Tötungsdelikte – darunter nur 36 Morde gegeben haben. Ob diese Zahlen geschönt sind? Das ist nicht bekannt. Doch man darf zweifeln.

Beginn des Zweiten Weltkrieges – neue Formen und mehr Verbrechen in Berlin

Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnen die Nazis den Zweiten Weltkrieg. Die Folge: mehr Verbrechen und weniger Kriminalbeamte. Denn viele werden in die Kriegsgebiete geschickt, die Berliner Kriminalpolizei erlebt einen starken Personalmangel. Gleichzeitig kommt es in der Stadt zu immer mehr Verbrechen.

Sogenannte „Kriegswirtschaftsdelikte“, wie illegaler Tausch- und Schwarzhandel rationierter Waren kommen hinzu. Auch der Kampf gegen die Fälschung von Lebensmittelkarten und Ausweisdokumenten gehört nun zur täglichen Arbeit der Polizei. Viele hungern oder haben ihr ganzes Hab und Gut bei den Bombardierungen Berlins verloren – das Leben ist zu einem Kampf ums Überleben geworden. Mit der Verdunkelungsverordnung der Nazis trauen sich immer mehr Menschen in Berlin, kriminelle Dinge zu tun. Im Schutz der Dunkelheit hat man hier leichtes Spiel. Es herrscht Ausnahmezustand in der Stadt.

Aufgrund der zunehmenden Bombardierungen verlieren immer mehr Berliner ihr Zuhause. Foto: IMAGO/Gemini Collection

„Zwischen 1940 und 1943 steigt die Kriminalität kontinuierlich an und erreicht 1943 einen vorläufigen Höhepunkt. Die Zahl der Raubüberfälle steigt um 115 Prozent, die der Tötungsdelikte um 44,8 Prozent. Die Kripo ist hoffnungslos überlastet“, veranschaulicht Stürickow die Lage in Berlin zu dieser Zeit. „Sogenannte geringfügige Straftaten werden schon ab 1939 nicht mehr bearbeitet.“ Doch neben den vom Krieg bedingten hinzugekommenen Verbrechen, fallen bei der Berliner Polizei auch zu jener Zeit gewöhnliche Mordfälle an: Femizide, Familienfehden, Sexual- und Raubmorde.

Die letzten Kriegsjahre – Verbrechen werden mehr und brutaler

Während auch die Niederlagen in den Kriegsgebieten verheimlicht werden, spitzt sich die Lage in Berlin 1943 weiter zu. Wegen des immer größeren Personalmangels werden Einbruch und Diebstahl nicht mehr verfolgt. Die Zahl der Straftaten steigt stetig an, darunter auch Gewaltverbrechen. An Kindern verübte Sexualdelikte belegen hierbei einen schrecklichen ersten Platz. Täter können kaum noch identifiziert und verhaftet werden.

Mit den zunehmenden Bombardierungen Berlins kommen erneut neue Aufgaben auf die wenigen verbliebenen Beamten hinzu: der Kampf gegen Plünderungen und die Identifizierung der Bombentoten in der Stadt. Weil Fahrzeuge und Benzin zunehmend auch bei der Berliner Polizei fehlen, müssen die Beamten zu Fuß, mit dem Rad oder den wenigen Verkehrsmitteln der BVG ihre Arbeit bewältigen.


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Der Verlust des eigenen Zuhauses, des Jobs oder eines Familienmitglieds lässt bei vielen Menschen in der Stadt die Hemmschwelle sinken. Weil unzählige Kinder und Jugendliche zu Opfern des Krieges werden, bilden sich zunehmend Jugendbanden. Auch sie machen es den Beamten im ohnehin schon chaotischen und brutalen Berlin noch einmal schwerer. Die Aufklärungsquote von Straftaten sinkt auf den Tiefstand.

True Crime Berlin 1944: Morden für Kartoffeln

Die Lage spitzt sich 1944 noch einmal zu. Der Hunger bringt Menschen dazu zu morden – zum Beispiel für ein paar Kartoffeln. Währenddessen werden die Berliner dazu angehalten möglichst darauf zu verzichten die Polizei zu rufen. Es gilt: Man soll sich erst einmal selbst helfen. Ein Freifahrtschein für noch mehr – sogar geduldetes – Verbrechen? Mordfälle werden kaum noch aufgeklärt, die Zahl an Vergewaltigungen nimmt zu – in Berlin herrscht das absolute Chaos. Nur wenige Monate später wird Berlin am 8. Mai 1945 von den Nazis befreit. Von den Verbrechen jedoch nicht. Sie gehen bis heute weiter. Doch so wie zur Zeit der Nationalsozialisten sollten sie nie wieder sein.


Die Artikelserie zum größten Kriminalfall der NS-Zeit – dem Berliner S-Bahn-Mörder liest du ab Freitag hier bei BERLIN LIVE.