Seit dem Februar 2022 lebt Liusiena Zinovkina in Berlin. Sie floh vor dem russischen Angriffskrieg, vor den Bomben, Panzern, Soldaten. In der deutschen Hauptstadt hat sie dank Bekannten Zuflucht gefunden, eine Arbeit, ein soziales Umfeld.
Ihr Herz ist aber viele hundert Kilometer entfernt – in einer Gefängniszelle in der russischen Stadt Rostow am Don. Hier wird Liusienas Mann Kostiantyn unschuldig festgehalten. Experten wissen: Seine Geschichte ist kein Einzelfall.
Berlin: Ukrainerin kämpft um ihren Mann
Als Russland den offenen Angriff auf die Ukraine startete, waren Liusiena Zinovkina und ihr Mann, den sie liebevoll Kostya nennt, nicht zusammen. Sie war gerade für eine Fortbildung in Kiew, er blieb in Melitopol, arbeitete an seiner Werkstatt. Zehn Tage vor Kriegsbeginn haben sich die beiden das letzte Mal gesehen – seither nicht mehr.
Zusammen entschieden sie, dass Liusiena nach Berlin fliehen sollte. „Wir wollten unsere Chance verdoppeln“, sagt die 32-Jährige im Interview mit BERLIN LIVE. „Die Chance, dass immerhin einer von uns überlebt.“ Kostiantyn blieb in Melitopol, bei seiner Mutter und seiner schwer kranken Großmutter.
Bald rückte die russische Armee vor, besetzten Melitopol. Doch viele Menschen wollten das nicht, organisierten Demonstrationen gegen die Besatzer. Auch Kostiantyn Zinovkin war auf diesen Demonstrationen. Zunächst waren diese auch zugelassen, doch der Druck von russischer Seite wurde immer größer – und so ebbten die Proteste ab. Auch Kostiantyn zog sich ins Private zurück.
Am 12. Mai 2022 wurde Kostiantyn Zinovkin festgenommen
Umso größer war der Schock am 12. Mai, als Kostiantyn festgenommen wurde. Liusiena hat das durch eine Sprachnachricht vom Mann ihrer Schwägerin erfahren. Damals war die Sorge noch nicht so groß. Es gab immer wieder kurzzeitige Festnahmen, erzählt sie. Im Rahmen der Festnahme sei Kostiantyns Mutter sogar versichert worden, dass ihr Sohn bald wieder nach Hause kommen würde – doch das war nicht so. Stattdessen hatten sie über zwei Wochen gar keinen Kontakt zu ihm.
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Nur durch die Beharrlichkeit seiner Familie bekamen sie ein Lebenszeichen. Kostiantyn Zinovkin wurde in einem Dorf um näheren Umkreis von Melitopol festgehalten. Später wurde er in die Oblast Cherson verlegt. Dabei riss der Kontakt wieder über mehrere Wochen ab. Als er wieder hergestellt war, erfuhr die Familie auch, was ihm vorgeworfen wurde: Terrorismus und die Vorbereitung schwerer Straftaten – dabei hatte er nur demonstriert. Aktuell befindet er sich in Rostow am Don – mit drei anderen Männern in einer Vier-Personen-Zelle. Die besten Haftbedingungen, die er jemals hatte, sagt Liusiena.
Das Gerichtsverfahren gegen ihn hat bereits begonnen. Liusiena Zinovkina spricht von einem „Schauprozess“, von einem „Theaterstück“. Auch Kostiantyn selbst flüchte sich in dieser Situation in Galgenhumor. Er könne nur über das Theater lachen, dass Richter, sein Anwalt und sogar angebliche Zeugen aufführen würden. Dennoch drohen im bis zu 25 Jahre Haft.
Die Geschichte ist kein Einzelfall
Ein Einzelfall ist die Geschichte von Kostiantyn Zinovkin übrigens nicht. Laut ukrainischen Behörden gelten rund 16.000 Zivilisten als „unter besonderen Umständen vermisst“. Viele von ihnen befinden sich wahrschlich in russischer Haft. Laut Carmen Traute, Europa-Expertin von Amnesty International, wurden zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen ukrainische Zivilisten willkürlich und ohne faires Gerichtsverfahren inhaftiert wurden. Oftmals erhalten die Angehörigen keine Informationen über den Verbleib ihrer Liebsten – wie immer wieder im Fall von Kostiantyn Zinovkin.
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Aus Berichten ehemaliger Inhaftierter weiß Amnesty International, dass es in der Haft Bedingungen herrschen, die „Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bzw. Bestrafung gleichkommen“. Die willkürliche Inhaftierung von Zivilisten sei eine Strategie Russlands, um die ukrainische Zivilbevölkerung einzuschüchtern. Das stelle „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ dar.
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Liusiena Zinovkina gibt den Kampf um ihren Mann indes nicht auf. Sie will für so viel Aufmerksamkeit wie möglich sorgen, erzählt sie. Ihr Ziel: Die russischen Behörden sollen wissen, dass man ihren Kostya in Deutschland kennt. Auch deshalb schickt sie immer wieder Briefe ins Gefängnis – und bittet auch andere Menschen, Briefe und Karten ins russische Gefängnis zu schreiben.
Durch den Alltag helfen ihr ihre Freunde, Familie und eine Psychologin, mit der sie einmal in der Woche spricht. Vor allem der Gedanke an ihren Kostya bringt sie aber dazu, immer weiter zu machen, mit Medien, Menschenrechtsorganisationen und Politikern zu sprechen. „Ich bin nicht stark“, sagt sie am Ende eines Interviews, in dem sie eigentlich das Gegenteil bewiesen hat. „Ich bin nur stark für Kostya.“